Am vergangenen Donnerstag gastierte die russische Pianistin Anna Vinnitskaya mit einem Recital im Brahms Saal des Musikvereins. Erst vor zwei Jahren gab sie ihr Debüt im Haus, damals bei den Wiener Symphonikern mit der Rhapsodie über ein Thema von Paganini von Sergej Rachmaninov. Gerade Rachmaninov und Prokofiev ist sie höchst vertraut: das große 2. Konzert g-Moll von Sergej Prokofiev hat sie in der Vergangenheit mehrfach mit großem Erfolg gespielt, so zum Beispiel als Artist in Residence bei der Dresdner Philharmonie unter Leitung von Marek Janowski. Obwohl die in Hamburg lebende und dort auch lehrende Pianistin immer wieder auch Recitals spielt und auch schon mehrere CDs veröffentlicht hat, war es der erste Solo-Abend, den ich live erleben konnte.
Für Wien hatte de sich ein besonderes Programm ausgesucht, das im ersten Teil César Franck (den man eher aus seiner Kammermusik heraus kernt) der sphärisch flächigen Musik des Russen Alexander Skrjabin gegenüberstellte. Francks „Prélude, fugue et variation“ h-Moll, Opus 18 ist ein transkribiertes Orgelwerk und stellenweise hört man auch im Klavierpart das für die Orgel Erdachte durch. Auf diese Weise entsteht aber ein friedliches, harmonisches Stück, das auf Figurenwerk weitgehend verzichtet. Vinnitskaya zeichnete dies mit feinem Stift nach, sicher war es aber auch ein Einstimmen auf Saal und Instrument, den bei den folgenden Stücken von Alexander Skrjabin sind solche Ruhepunkte eher selten. Der Walzer Op. 1 erscheint noch als vorsichtiges Tasten in spät-chopinschen Gefilden, dann aber wählt Vinnitskaya mit der Fantasie h-Moll Op. 28 ein vor Fantasie und Experiment übersprudelndes Werk, das nun auch quasi Volleistung des Flügels erfordert.
Anna Vinnitskaya zeigt dabei jede Menge vorwärtsgerichtete Leidenschaft, die aber nie über den Punkt hinausschießt – Skrjabin klingt in dieser Art gewaltig, aber nicht gewalttätig. Auch in den Tempi peilt sie extreme Punkte an, die aber noch so gewählt sind, dass man ein Perlen in der Oberstimme oder in schnellen Notenwerten grummelndes Rumoren in der linken Hand deutlich vernimmt. Die „Deux Poèmes“ Op. 32 wirken dann wie ein verträumtes Innehalten, bevor Vinnitskaya mit der etwas ziellos umherstürmenden, doch in ihrer offenen Exstatik faszinierenden 5. Sonate das Skrjabin-Panorama des ersten Konzertteils beschließt. Auch hier wahrt Vinnitskaya die feine Grenze und hebt Skrjabin weniger als visionsverlorenes Genie sondern als pianistisch anspruchsvollen Klangkünstler heraus.
Robert Schumann zu formen und zu fördern ist da schon etwas einfacher, spricht da das Genius ja fast aus jeder Note. Aber auch der „Carnaval“, Opus 9 will in seiner Wimmeligkeit über einundzwanzig Charakterbilder erst einmal erfasst werden. Vinnitskaya gelingt das über die ihr eigene Freude am virtuosen Spiel, die sie auch immer wieder zeigt – Grübelei ist ihre Sache nicht, auch wenn sie sich in den langsam-nachsinnenden Episoden durchaus versenken mag. Doch dann fliegen die Finger wieder und ihr gelingt es, sowohl die Tanzcharaktere als auch viele thematische Bezüge zwischen den Stücken, die zum Teil großes pianistisches Können verlangen, zu zeigen. So gelingt ihr ein großer Erzählfluss, ein Carnaval als im Wortsinn „phantastisches“ Panorama.
Dass man einen Soloklavierabend mit einem zeitgenössischen Werk beschließt, ist selten, aber hier fast zwangsläufig, wenn man den „Carnaval“ den „Zirkustänzen“ von Jörg Widmann (geb. 1973) gegenüberstellt. Das eröffnet beim Hören neue Horizonte, und es macht schlicht Spaß, mit welcher Aufrichtigkeit, welchem Können sich Vinnitskaya diesem Zyklus stellt, der neben Wahnwitz auch manche Doppelbödigkeit bereithält und sich am Ende mit auseinanderfliegenden Karussells und Marsch-Unfällen selbst dekonstruiert. Dieses Spiel dürfte auch Widmann große Freude bereiten, denn einem Komponisten ist nichts lieber, als wenn wirklich an der Tiefe des Notentextes interessierte Interpreten die neuen Noten zu spannendem (Eigen-) Leben erwecken. Dem jubelnden Publikum gönnte Vinnitskaya noch drei schöne Zugaben aus den Federn von Chopin, Schumann und Rachmaninov, wenn meine Ohren richtig gehört haben. Hoffentlich kommt Anna Vinnitskaya bald wieder nach Wien.
Foto (c) Marco Borggreve